Treue

Die Treue, die ich meine, bezieht sich nicht auf eine einzelne Person, sondern auf alle Menschen, mit denen ich in Kontakt trete .

Dem liegt folgende Annahme zugrunde: "Es gibt keinen Nutzen für einen Menschen, der gleichzeitig einem anderen Menschen Schaden bedeutet." Das ist eine Annahme, an die ich aber glaube. Gemeint ist damit nicht, dass es nicht möglich sein soll, einem Menschen beispielsweise Geld oder anderes Vermögen wegzunehmen und sich somit wirtschaftlich zu bereichern. Aber für die eigene Seele ist in meiner Vorstellung eine solche Handlung schädlich, sprich sie vermindert die eigene Lebensfreude. Andersherum sind Geben und Annehmen (im Unterschied zum Wegnehmen) Handlungen, die tiefe Zufriedenheit erzeugen.

Die Treue, wie ich sie definiere, ist das zuverlässige Bemühen, jedem Menschen, mit dem ich in irgendeiner Weise verbunden bin und insoweit ich dafür verantwortlich bin, gerecht zu werden oder ihn gerecht oder zumindestens menschlich zu behandeln. Die Verbindung kann entweder durch den direkten Kontakt bestehen, oder aber auch über eine Handelsbeziehung über mehrere Ecken oder über die Politik zweier Staaten, insoweit ich über meine Mitbestimmung verantwortlich für die Politik meines Landes bin.
Das klingt zunächst nach einer kolossalen Überforderung. Diese Haltung wird aber relativ einfach umsetzbar, wenn wir einen weiteren "Grundsatz" hinzunehmen:
Ich bin für mein Handeln verantwortlich, nicht für das der anderen Menschen. Ich bin auch nicht verantwortlich für den Zustand, in dem ich die Welt vorfinde. Ich darf die Realität annehmen, wie sie ist. Mit der Realität zu hadern, ist vergebene Anstrengung. "Ich bin nicht mit dem Recht auf die Erde gekommen, sie so vorzufinden, wie ich sie mir wünsche oder wie man mir erzählt, dass sie sein sollte. Ich bin auch nicht verantwortlich für den Zustand der Erde. Es ist aber die schönste Herausforderung, daran zu arbeiten, dass sie lebenswert ist." Dies ist für mich einer meiner Leitsätze. Meine Verantwortung kommt überall da ins Spiel, wo ich selber Handle und wo ich Handlungsspielräume habe. Beispielsweise beim Einkauf kann ich fair gehandelte Produkte erwerben, wenn ich um die unmenschlichen Bedingungen weiß, unter denen manche Produkte hergestellt werden, und wenn ich Bezugsquellen finden kann, unter denen ich Produkte beziehen kann, die unter menschlicheren Bedingungen hergestellt werden. Bei einer politischen Wahl kann ich einer Partei, die ankündigt, Kriegspolitik gegen unschuldige Länder auszuüben, eine Absage erteilen. Diese Verantwortung gegenüber weit entfernten "Nächsten", die über Handels- oder politische Beziehungen mit uns verbunden sind, hat im Prinzip keine andere Qualität, als die Verantwortung für Angehörige, Familienmitglieder und den Partner. Erich Fromm hat es in seinem Buch "Die Kunst des Liebens" über die Liebe gesagt, dass sie sich in diesem umfassenden Sinn entweder auf alle Menschen erstreckt, oder auf keinen. Eine Liebe, die nur einen Menschen oder eine beschränkte Gruppe von Menschen meint, gibt es in diesem Sinne nicht.

Ich möchte gerne ein starker und reicher Mensch sein. Reichtum äußert sich für mich in Freiräumen, die ich habe. Er zeigt sich in Freiheitsgraden, die meine Bewegungen haben. Diese Freiheitsgrade werden durch wirtschaftliche Möglichkeiten, sprich "Vermögen", im Prinzip gesteigert. Eine eher größere Rolle spielt bei meinen Freiräumen und Freiheitsgraden meiner Bewegungen, inwieweit ich mich nicht durch reelle oder vermutete Erwartungen meiner Umgebung in meinem Handeln eingrenzen lasse. Eine weitere Rolle spielt der Grad von Unabhängigkeit von materiellen Gütern. Wenn ich gelernt habe, im Wald zu leben, um es bildlich auszudrücken, kann ich mit einem Tausenstel des Geldes auskommen, welches ein Millionär für eingegangene monatliche Verpflichtungen benötigt, bevor er sich überhaupt ernähren kann. Reichtum bedeutet aber auch den Grad an Zuwendung, den ich erhalte, unabhängig von dem vordergründigen Nutzen, den sich andere Menschen vom Umgang mit mir erwarten. Reichtum bedeutet demnach, Freunde zu haben anstelle von Bewunderern. Oder anders ausgedrückt: treue Freunde und keine berechnenden. Treue Menschen haben oft auch ein Auge für die Treue, die andere Menschen haben. Es ist vielleicht eine gesunde Form der Berechnung, dass treue Menschen sich auch gerne treue Freunde suchen. Vielleicht ist es aber auch eine Folge der Treue, dass Verbindungen entstehen, die auch zu mir wieder eine Verlässlichkeit zeigen. "Wie man in den Wald ruft..." Vielleicht kann meine Treue einfach auf andere Menschen ausstrahlen und sie anstecken.

Das Bild des reichen Menschen schließt im Prinzip das Vorhandensein von wirtschaftlichem Vermögen nicht aus. Aber für das Bild eines starken und reichen Menschen im umfassenden Sinne ist es relativ unverträglich, wenn in seinem Haus eine Putzfrau arbeitet, die 60 Stunden in der Woche arbeitet und die mit dem Geld dann ihre Kinder nicht ernähren kann. Ich bin kein Freund der Gleichheit. Auch wenn ich unterstelle, dass die Putzfrau nie Visionen von einem anderen Lebensstandard hatte, trotz vorhandener Möglichkeiten nie etwas für Bildung getan hatte und nie nach Möglichkeiten einer wirtschaftlich besseren Lage gesucht hätte: Wenn sie wenigstens unter humanen Arbeitsbedingungen und einer freundlichen Umgangsweise in der Lage ist, ein bescheidenes Leben ohne Not zu führen, dann werden sich Hausherr und Putzfrau beim Abschied nach einem Arbeitstag freundlich in die Augen sehen können. Kann besagter Hausherr seiner Putzfrau nicht gerade in die Augen sehen, dann wird auch das Verhältnis zu seiner Frau kaum von grundlegender Treue getragen sein, sondern eher eine Zweckgemeinschaft auf einem bestimmten gesellschaftlichen Niveau darstellen. Wenn "Reichtum" auf der unfairen, Not ausnutzenden Ausbeutung basiert, dann beschmutzt dieser Zustand das Wesen des "Reichtums", es ist genauer gesagt eine Armut und es ist zu vermuten, dass der arme Ausbeuter unter großem Druck und geringem Selbstvertrauen leidet, welches durch gesellschaftliche Machtsymbole übertüncht wird.

Die Treue im umfassenden Sinn kann aber auch keine Selbstausbeutung bedeuten, nach dem Motto: "Solange es der Welt schlecht geht, kann es mir nicht gut gehen". Die Welt ist im Verhältnis zum eigenen unmittelbaren Einflussbereich so groß, dass durch Selbstausbeutung keine Veränderung initiiert werden kann. Eigenes Leiden und der durch Ausbeutung reduzierte eigene Spielraum schaffen auch eine persönliche Armut, aus der heraus kaum mehr gegeben werden kann und die keine "ansteckenden Impulse" mehr versprühen kann. Verantwortliches Handeln gegenüber jedem auch so entfernten "Nächsten" kann gleichzeitig einhergehen mit einer Loslösung von dessen möglichen Leiden. Verantwortliches Handeln erleichtert im Gegenteil sogar diese Loslösung, denn ein sensibler Mensch fühlt sich gegenüber einem leidenden Menschen vielmehr verantwortlich für dessen Leiden, wenn er mit diesem nicht gerecht umgegangen ist. Der Gerechte oder Faire kann über das Leid anderer und in der Welt trauern, ohne dass seine eigene Freude dadurch zerstört wird, weil er mit sich und der Welt im reinen ist. Diese verantwortliche Distanz zum möglichen Leid anderer erfordert das ein oder andere mal ein paar Gedanken über die Grenzen der Verantwortung zwischen einem selbst und dem jeweiligen Nächsten. Wo ich dann über diese Grenzen hinaus "ohne Auftrag" "Gutes" zu geben versuche, da hat es den Charakter eines Hobbies und es ist hilfreich, keinen Dank oder auch nur Freude über die unerbetenen Geschenke zu erwarten. Der Bereich des "Hobbies" sollte im Einklang mit der eigenen Freude und den eigenen Kräften stehen. Wer hier sensibel, wachsam und ohne Erwartungen schenkt, erhält aber das ein oder andere mal Dank oder erlebt Freude. Diese Erlebnisse sind meines Erachtens auch eine Form von Reichtum.

Der Wert einer langjährigen Intimbeziehung oder Ehe

Treue bedeutet für mich, Verantwortung zu übernehmen für die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf den Partner. Treue bedeutet für mich, Freunde und insbesondere den Intim- oder Ehepartner nicht im Stich zu lassen. Der beginn einer Freundschaft, Intimfreundschaft und insbesondere einer Ehe bedeutet, dass man in besonderem Maße Verantwortung für den Freund oder Partner eingeht. Da Menschen, die sich binden, ihr Leben gegenseitig aneinander ausrichten, investieren sie in den jeweiligen Lebenspartner. Wenn man sich diesen Invest (den eigenen Invest und den des Partners vergegenwärtigt, wird deutlich, dass eine langjährige Beziehung einen Wert darstellt, der sie gut über mögliche neue Partnerschaften erheben kann. Die vielen Entgegenkommen (die eigenen und die des Partners) können schwer in eine neue Partnerschaft mitgenommen werden. Auch die intensiven Erfahrungen aus früheren Jahren, als man noch naiver und direkter erleben konnte, die früheren Urlaube und anderen Abenteuer sind eine Ressource einer Partnerschaft, aus welchen diese auch in schlechten Zeiten zehren kann und die nicht in eine neue Partnerschaft mitgenommen werden können.

Die Eheschließung stellt ein starkes Ritual dar, welches Menschen in gewisser Weise unlösbar miteinander verbindet. Einen Teil dieser Bindung kann auch eine Scheidung nicht auflösen. Auch nach einer Trennung nimmt der ehemalige Partner einen bedeutenden Raum in der Psyche oder Seele eines Menschen ein. Auch Hassgefühle oder extreme Ablehnung eines ehemaligen Partners sind ja letztendlich Zeichen einer ungelösten Bindung. Ohne diese Bindung könnten diese Gefühle ihre Kraft nicht entfalten. Eine Verbindung, die mit einer starken Ablehnung gepaart ist, frisst viel von der eigenen Lebensenergie.

Mit unverzeihlicher Leichtfertigkeit wird immer wieder in den Medien über die Familie als "überholte Lebensform" philosophiert, ohne alternativen zu nennen. Tatsache ist, dass bald die Hälfte aller Kinder nur noch bei einem der Elternteile lebt und nur im Glücksfall eine gesunde Beziehung zu dem anderen Elternteil (meistens die Väter) führen kann. Zahllose Studien bezeugen, dass diese vaterlosen Kinder wesentlich schlechtere Chancen im Leben haben, als Kinder aus intakten Familien. Auch Väter, die dauerhaft von ihren Kindern getrennt sind, haben eine hohe Last zu tragen. Die gängige "Alternative" zur Familie - die zertrennte Familie - ist also eine ausgesprochen unvorteilhafte Alternative. Auch die Großfamilie, die zumindst für die Kinder so manches wegpuffern würde entspricht nicht dem Zeitgeist der Beliebigkeit. Kommunen bieten selten die echte Beständigkeit. Die wenigen Kommunen, in denen Beständigkeit und Treue als Grundhaltung bestand hätten, könnten jedoch, solange die Eltern im Verbund stabil gehalten werden vielleicht zumindstens für die Kinder auch ohne den Fortbestand der Ehe noch mehr Schutz bieten.

Somit bedeutet jede Trennung einen großen Verlust und schneidet einen von vielen Werten der Vergangenheit ab. Insbesondere eine Trennung im schlechten Einvernehmen bedeutet zusätzlich einen hohen Verlust an Lebenskraft und Freiheit. Menschen, die einen langjährigen Partner im Stich gelassen haben, ihn danach vielleicht noch ausgebeutet oder verletzt haben, bringen nur wenig wirkliche Offenheit für neue Beziehungen mit und sind gegenüber den nächsten Partner potentiell ebenso befangen, wie gegenüber dem letzten Partner. Paradoxer Weise hat es oftmals ein schmählich verlassener Mensch leichter, wenn seine Wunden heilen können, offen in eine neue Partnerschaft zu gehen.
Leider gibt es heute in unserer Kultur viel zu viele "Lebensberater", die diese Werte und Gefahren ignorieren und leichtfertig zur Trennung raten, wenn beispielsweise der andere Partner irgendwelche Verfehlungen getätigt hat. "Dass muss sich niemand bieten lassen" lautet dann der oftmals richtige Rat mit der leider oft falschen Schlussfolgerung, aus der misslichen Lage durch Trennung zu entfliehen. Freunde, die einen bei der Konfliktlösung auch im Respekt gegenüber dem Partner begleiten gibt es viel zu wenige. Auch die Gesellschaft bietet viele Hilfen zur Trennung an, aber wenige Hilfen für Ehen in der Krise oder für Getrennte Familien.

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Letzte Änderung: 22.08.2010
Ulrich Sommer